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Gastbeitrag

Unser stolzer Sozialstaat – ist dringend reformbedürftig

Auf Deutschlands soziale Errungenschaften sollten die Bürger:innen stolz sein. Doch der Sozialstaat braucht dringende Reformen. Knut Fleckenstein, Bundesvorsitzender des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland e. V., über fünf wichtige Baustellen der künftigen Bundesregierung.

Knut Fleckenstein, ASB-Bundesvorsitzender

Foto: ASB

In Deutschland hat sich der Sozialstaat über einen Zeitraum von mehr als 130 Jahren entwickelt und bewährt. Im Jahr 2025 hat jeder Mensch in unserem Land Zugang zu Sozialleistungen, einem weitgehend funktionierenden Gesundheitssystem und einer Vielzahl von Unterstützungsangeboten. Der Anspruch, dass sich die Stärke einer Gesellschaft am Umgang mit den Schwächsten misst, ist damit zum großen Teil eingelöst. Das darf uns stolz machen.

Die künftige Bundesregierung hat sich mit dem Koalitionsvertrag auf gemeinsame Ziele für die kommenden Jahre verständigt. Viele der im Vertrag benannten Vorhaben greifen Forderungen der Wohlfahrtsverbände auf – doch zentrale strukturelle Reformen wurden nicht angekündigt – die aber wären dringend notwendig.

Denn die soziale Infrastruktur und die sozialstaatlich abgesicherte Sorgearbeit, von der Kinderbetreuung bis zur Pflege hochbetagter Menschen, ist kein Selbstzweck, sondern eine zivilisatorische Leistung mit verschiedenen Zieldimensionen und eben kein verzichtbares Add-on. Sozialstaatlichkeit ist immer auch ein Standortfaktor, der es Unternehmen ermöglicht, sich hier anzusiedeln.

Wie können wir den Sozialstaat reformieren?

Ein moderner Sozialstaat erfordert tiefgreifende strukturelle Anpassungen, die sich konsequent an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orientieren.

Wir müssen daher erstens mehr in Prävention und zweitens in Digitalisierung investieren.

Auch das haben Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt: Erleichterungen durch digitale Dokumentationssysteme und den Einsatz von KI. Doch das reicht an Reform nicht aus: Digitalisierung ersetzt keine gerechte Finanzierung.

Und das ist der dritte Punkt: Die Pflegefinanzierung muss reformiert werden. Daher ist die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung unabdingbar, um die finanziellen Belastungen bei den Pflegebedürftigen und deren Familien zu reduzieren.

Zwar haben die Union und die SPD eine umfassende Pflegereform als prioritäres Ziel benannt, doch auf eine solidarische Pflegevollversicherung oder eine echte Deckelung der Eigenanteile hat man sich bislang nicht verständigt. Das ist nicht der große Wurf.

Viertens: der Datenschutz. Ja, Datenschutz ist wichtig, aber er darf nicht zum Hemmschuh werden, der sinnvolle Reformen blockiert. Ein transparenter Sozialstaat kann gezielter fördern – und Missbrauch erschweren.

Fünftens, die Altersvorsorge. Dafür müssen wir über einen flexiblen Renteneintritt, die Reaktivierung der bis 1996 erhobenen Vermögenssteuer und eine bessere Integration von Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt nachdenken. Die Ausweitung des Kreises der Beitragszahler ist zwingend. Dafür brauchen wir vereinfachte Verfahren zur Anwerbung und Integration ausländischer Fachkräfte, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Darüber hinaus müssen bessere Arbeitsbedingungen, etwa durch verbindliche Tariflöhne und geregelte Arbeitszeiten, die Attraktivität sozialer Berufe erhöhen. Hier sind auch Sozialunternehmen und Wohlfahrtsverbände wie der ASB gefordert.

Auch wenn die im Koalitionsvertrag angekündigten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Fachkräftesicherung in der Pflege in die richtige Richtung weisen, wird so eine grundlegende Neuausrichtung des Systems nicht erreicht.

Um den Sozialstaat gerechter zu gestalten, braucht es Mut, politischen Willen und Ehrlichkeit. Denn große Reformen brauchen Zeit und sind nicht in einer Legislaturperiode zu schaffen.

Viele Entscheidungen werden nicht populär sein, der Unmut vieler Interessengruppen ist absehbar. Aber nur so können wir sicherstellen, dass auch künftige Generationen stolz auf unseren Sozialstaat sein können. Die neue Regierungskoalition hat jetzt die historische Chance, den Sozialstaat zukunftsfest zu gestalten. Wir brauchen mehr denn je soziale Sicherheit und eine Vision, wie Solidarität, Verantwortung und Generationengerechtigkeit miteinander verbunden werden können.

(erschienen am 29. April 2025 im Hamburger Abendblatt)