Unser stolzer Sozialstaat – ist dringend reformbedürftig
Auf Deutschlands soziale Errungenschaften sollten die Bürger:innen stolz sein. Doch der Sozialstaat braucht dringende Reformen. Knut Fleckenstein, Bundesvorsitzender des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland e. V., über fünf wichtige Baustellen der künftigen Bundesregierung.

Knut Fleckenstein, ASB-Bundesvorsitzender
Foto: ASBDeutschland ist ein Land, in dem sich der Sozialstaat über einen Zeitraum von mehr als 130 Jahren entwickelt und bewährt hat. Im Jahr 2025 hat jeder Mensch in unserem Land Zugang zu Sozialleistungen, einem weitgehend funktionierenden Gesundheitssystem und einer Vielzahl von Unterstützungsangeboten. Der Anspruch, dass sich die Stärke einer Gesellschaft am Umgang mit den Schwächsten misst, ist damit eingelöst. Das sollte uns stolz machen.
Die neue Bundesregierung hat sich mit dem Koalitionsvertrag auf gemeinsame Ziele für die kommenden Jahre verständigt. Viele der im Vertrag benannten Vorhaben greifen Forderungen der Wohlfahrtsverbände auf – doch zentrale strukturelle Reformen wurden nicht angekündigt.
Denn nicht nur die Infrastruktur und die Verteidigung müssen reformiert werden, um die Sicherheit Deutschlands auch in Zukunft zu garantieren. Auch der Sozialstaat bedarf dringender Erneuerung.
Für die Armutsbekämpfung muss man vor allem die epochale Rentenreform von 1957 und die 1995 eingeführte Pflegeversicherung hervorheben. Letztere ist weltweit einmalig – und hat dazu beigetragen, pflegebedürftigen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Sie wurde unter Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) und dem SPD-Sozialexperten Rudolf Dressler als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt. Ziel war es, das Risiko der Pflegebedürftigkeit sozial abzusichern und die Sozialhilfeabhängigkeit zu verringern. Blüm bezeichnete die Einführung der Pflegeversicherung damals als „die beste Nachricht seit 20 Jahren“.
Doch heute sind die Pflegekassen leer. Im Jahr 2024 betrugen die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung in Deutschland insgesamt rund 61 Milliarden Euro. Die Einnahmen der Pflegeversicherung stammen überwiegend aus den Beiträgen der Versicherten und der Arbeitgeber. Diese Umlagefinanzierung, einst eine tragende Säule, gerät angesichts steigender Lebenserwartung und zunehmender Pflegebedürftigkeit unter Druck: Die Zahl der Leistungsempfänger hat sich in den vergangenen 28 Jahren verfünffacht.
Ebenso beeindruckend ist die Entwicklung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes beliefen sich die Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland im Jahr 2023 auf rund 68 Milliarden Euro netto. Hinzu kommen die Bundeszuschüsse an die allgemeine Rentenversicherung, die im Wesentlichen die Kosten für die sogenannten nicht beitragsgedeckten Leistungen abdecken und im Jahr 2023 rund 112,4 Milliarden Euro betragen. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass wir in Deutschland rund 1.250 Milliarden Euro (2024) für öffentliche Sozialausgaben ausgeben. Der Anteil der Sozialausgaben am BIP beträgt rund 30 Prozent, was im internationalen Vergleich zweifellos eine hohe Quote darstellt.
Diese Zahlen sind beachtlich. Aber diese Ausgaben sind auch eine Investition in den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität unseres Landes. Die soziale Infrastruktur und die sozialstaatlich abgesicherte Sorgearbeit, von der Kinderbetreuung bis zur Pflege hochbetagter Menschen, ist immer auch ein Standortfaktor, der es Unternehmen ermöglicht, sich hier anzusiedeln. Sozialstaatlichkeit ist kein Selbstzweck, sondern eine zivilisatorische Leistung mit verschiedenen Zieldimensionen und eben kein verzichtbares Add-on.
Und gerade weil es einen breiten gesellschaftlichen Konsens über unseren Sozialstaat gibt, sollten wir vor notwendigen Reformen nicht zurückschrecken. Denn die Stärken unseres Systems sind unbestreitbar seine Herausforderungen.
Was mich als Bundesvorsitzenden eines Wohlfahrtsverbandes aber ärgert, ist die Art und Weise, wie über die Finanzierbarkeit des Sozialstaates diskutiert wird. Viel zu oft verlieren wir uns in einer „klein-klein“-Debatte über Haushaltsposten, anstatt die grundsätzlichen Fragen zu stellen: Wie können wir unser System gerechter, effizienter und nachhaltiger machen? Es braucht Ehrlichkeit, eine klare Vision und keine fortwährenden kleinteiligen Reparaturversuche.
Notwendig ist ein Paradigmenwechsel: Statt immer neue Sparvorgaben zu formulieren, sollten wir darüber nachdenken, wie Ressourcen gebündelt und zielgerichteter eingesetzt werden können. Ein Beispiel dafür ist die kürzlich beschlossene Krankenhausreform.
Wie können wir den Sozialstaat reformieren?
Ein moderner Sozialstaat erfordert tiefgreifende strukturelle Anpassungen, die sich konsequent an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orientieren.
Wir müssen daher erstens mehr in Prävention und Digitalisierung investieren. Dies betrifft beispielsweise die Pflegeberatung, die durch digitale Lösungen effizienter und zugänglicher gestaltet werden kann, wie aktuelle Evaluationsberichte zeigen. Die Digitalisierung bietet enorme Chancen, Verwaltungsprozesse zu vereinfachen und Kosten zu senken.
Ein dritter Punkt ist der Datenschutz. Ja, Datenschutz ist wichtig, aber er darf nicht zum Hemmschuh werden, der sinnvolle Reformen blockiert. Ein transparenter Sozialstaat kann gezielter fördern – und Missbrauch erschweren.
Viertens, die Altersvorsorge. Dafür müssen wir über einen flexiblen Renteneintritt, die Reaktivierung der bis 1996 erhobenen Vermögenssteuer und eine bessere Integration von Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt nachdenken. Die Ausweitung des Kreises der Beitragszahler ist zwingend. Dafür brauchen wir eine Willkommenskultur und vereinfachte Verfahren zur Anwerbung und Integration ausländischer Fachkräfte, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen.
Und fünftens: Die Pflegefinanzierung muss reformiert werden. Daher ist die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung unabdingbar, um die finanziellen Belastungen bei den Pflegebedürftigen und deren Familien zu reduzieren. Darüber hinaus müssen bessere Arbeitsbedingungen, etwa durch verbindliche Tariflöhne und geregelte Arbeitszeiten, die Attraktivität sozialer Berufe erhöhen. Hier sind auch Sozialunternehmen und Wohlfahrtsverbände wie der ASB gefordert, sei es durch bessere Bezahlung, flexible Arbeitszeitmodelle oder erweiterte Ausbildungsmöglichkeiten.
Um den Sozialstaat gerechter zu gestalten, braucht es Mut, politischen Willen und Ehrlichkeit. Denn große Reformen brauchen Zeit und sind nicht in einer Legislaturperiode zu schaffen.
Aber der erste Schritt muss jetzt getan werden! Warum halten wir an ineffizienten Strukturen fest? Warum leisten wir uns ein System, das in der Krankenversicherung zwischen gesetzlich und privat Versicherten unterscheidet – statt eine Bürgerversicherung zu schaffen, die Kosten spart und mehr Gerechtigkeit schafft?
Die neue Bundesregierung kann nun die Weichen für die Zukunft zu stellen. Der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, kostet viel Geld. Aber er ist es wert, erhalten und verbessert zu werden.
Wir brauchen mehr denn je soziale Sicherheit und die neue Regierungskoalition braucht eine Vision für den Sozialstaat. Viele Entscheidungen werden nicht populär sein, der Unmut vieler Interessengruppen ist absehbar. Das war bei allen großen Reformen so, ob 1957 oder 1994. Deshalb müssen wir als Zivilgesellschaft lauter werden. Nur so können wir sicherstellen, dass auch künftige Generationen stolz auf unseren Sozialstaat sein können.
Erschienen als Gastbeitrag am 29. April 2025 im Hamburger Abendblatt: