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Hilfen für Menschen mit Behinderungen

Interview mit Prof. Dr. Schütte zum Bundesteilhabegesetz

Im Interview erläutert Prof. Dr. jur. Wolfgang Schütte von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg, welche Folgen das geplante Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen haben kann. Prof. Dr. Schütte hat im Auftrag des ASB ein Rechtsgutachten zum Bundesteilhabegesetz im Hinblick auf bestimmte Fragestellungen erstellt. Das Gutachten stellte er bei der ASB-Fachveranstaltung zum Bundesteilhabegesetz am 6. Juli 2016 in Berlin vor.

Prof. Dr. Wolfgang Schütte

Prof. Dr. Wolfgang Schütte bei der ASB-Fachveranstaltung zum Bundesteilhabegesetz

Foto: ASB/A. Königstein

1. Entspricht das geplante Bundesteilhaberecht der UN-Behindertenrechtskonvention?

Prof. Dr. Schütte: Im Allgemeinen werden im künftigen Teilhaberecht, dem Eingliederungshilferecht, die Rechte der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gewahrt. Doch es gibt in der neuen Eingliederungshilfe, einige „Kostenbremsen": Die Wünsche der Berechtigten müssen sich in einem „angemessenen" finanziellen Rahmen halten, falls nicht haben „Bedarfsgerechtigkeit" und die „Wünsche der Berechtigten" zurückzutreten. Bei Assistenzleistungen oder bei der Förderung des Schulbesuchs können die individuellen Leistungsansprüche auch ohne Zustimmung der Berechtigten zu gemeinsamen Leistungen an mehrere Berechtigte zusammengeführt werden (Pooling). Deutschland ist ein Staat, der auch kostspielige Teilhabeleistungen garantieren kann, wenn sie bei hohen Hilfebedarfen im Einzelfall erforderlich sind und die Betroffenen diese wünschen. Das sind Einzelfälle, wie es sie auch im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung gibt. Daher sind die genannten Einschränkungen der Selbstbestimmung mit der UN-BRK nicht vereinbar.

 

2. Welche Folgen kann das Bundesteilhabegesetz (BTHG) für Menschen mit starken Beeinträchtigungen haben, die einen hohen pflegerischen Bedarf haben?

Prof. Dr. Schütte: Bei Pflegeleistungen für Menschen mit Behinderungen soll es im Einzelfall auch Verlegungen ohne Zustimmung des Berechtigten oder seines Betreuers geben dürfen; nämlich dann, wenn der Leistungsanbieter „die angemessene Pflege in seinen Räumlichkeiten" nicht sicherstellen kann. Hier rächt sich, dass die Pflegekassen an die Leistungsanbieter der Eingliederungshilfe nur einen „Abgeltungsbetrag" von 266 € monatlich zu zahlen haben, § 43a SGB XI. Bei hohem Pflegebedarf reicht dieser Betrag nicht aus, und so entsteht ein Druck in Richtung Pflegeheim. Diesen Paragraphen sollte man rasch streichen.

 

3. Was bedeutet es konkret, wenn die Leistungen der Pflegeversicherung Vorrang gegenüber den Leistungen der Eingliederungshilfe haben?

Prof. Dr. Schütte: Das neue Eingliederungshilferecht führt, wortgleich auch im Pflegestärkungsgesetz III, eine neue Vorrang-Nachrang-Regel ein. Damit entstehen neue Unklarheiten: Im „häuslichen Umfeld" gehen Pflegeleistungen vor; aber dann nicht, wenn die Aufgaben der Eingliederungshilfe „im Vordergrund" stehen. Außerhalb des „häuslichen Umfeldes" soll die Eingliederungshilfe Vorrang haben. Heute unterstützen die Pflegekassen beispielsweise im Rahmen der Verhinderungspflege Urlaube für Kinder mit Behinderungen, da werden sich die Kassen künftig zurückziehen müssen.

Das sind Sonderregeln für Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen, die von den allgemeinen Regelungen im SGB IX und XI abweichen. Dort nämlich ist bestimmt, dass Leistungen der Pflegekassen und solche der Rehabilitation und Teilhabe nebeneinander zu gewähren sind, für einzelne Leistungen der Pflegekassen gibt es keine räumliche Bindung. Ich halte die Schlechterstellung der Menschen mit erheblichen Behinderungen bezogen auf die Leistungen der Pflegekassen für nicht vereinbar mit dem Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 5 UN-BRK.

 

4. Wird mit dem BTHG noch der Grundsatz „ambulant vor stationär?" gelten?

Prof. Dr. Schütte: „Ambulant vor stationär" gilt auch weiterhin. Die Aufforderung an die Leistungsträger, entsprechende Angebote über Verträge mit Anbietern zu sichern, wird meines Erachtens sogar verstärkt. Denn die staatlichen Träger der Eingliederungshilfe haben künftig „eine personenzentrierte Leistung unabhängig vom Ort der Leistungserbringung" sicherzustellen. Und die Gesamtplanung soll sich am Sozialraum orientieren. Allerdings gilt – wie im geltenden Recht auch – der sogenannte „Mehrkostenvorbehalt", also die Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts bei „unangemessen" hohen Kosten, siehe zu Frage 1.

 

5. Das Bundeskabinett hat ja nach massiver Kritik, auch von Seiten des ASB, beschlossen, das Partnervermögen ab 2020 nicht mehr bei der Berechnung der Eingliederungshilfe heranzuziehen. Zudem wird es sowohl bei der Einkommensanrechnung als auch bei Anhebung der Vermögensgrenzen Verbesserungen geben. Reichen diese Regelungen aus?

Prof. Dr. Schütte: Bei Fachleistungen soll der Rückgriff auf finanzielle Mittel der Partner ja ab 2020 fallen. Ich halte das für zu spät und auch nicht für ausreichend. Auch behinderungsbedingte Mehrbedarfe in der Hilfe zum Lebensunterhalt sind aus verfassungsrechtlichen Erwägungen von einem Rückgriff auszunehmen, und zwar schon jetzt.

Wenn man künftig die Leistungen zur Teilhabe außerhalb der Sozialhilfe in einem eigenen Leistungsgesetz regelt, sind Einkommensanrechnungen nicht mehr systemgerecht; denn der Sozialstaat übernimmt Unterstützungsleistungen für die Teilhabe ja nicht deshalb, weil die Betroffenen sich die notwendigen Unterstützungen nicht leisten können, sondern weil die Menschen diese Leistungen brauchen. Zumindest einen Leistungssockel sollte man anrechnungsfrei gestalten. Mit einem anrechnungsfreien Bundesteilhabegeld hätte man diese Idee verwirklichen können, das wird wohl leider versäumt.

 

6. Haben die Betroffenen im BTHG einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Leistungen aus der Eingliederungshilfe?

Prof. Dr. Schütte: Ja, das haben sie. Dem Grunde nach lässt das Gesetz an einem einklagbaren Rechtsanspruch keinen Zweifel. Leider steht es nicht mehr so deutlich im Gesetz wie man es in § 17 Abs. 1 SGB XII lesen konnte. Unklarheiten bleiben aber in den Einzelfragen: Statt den Rechtsanspruch auszurichten auf eine bedarfsgerechte Hilfe, die dem Wunsch- und Wahlrecht entspricht, gewährt der Gesetzgeber den Behörden wieder den alten fürsorgerechtlichen Spielraum: „Über Art und Maß der Leistungserbringung  ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, soweit das Ermessen nicht ausgeschlossen ist."  Diese Vorschrift wurde 1:1 aus dem Sozialhilferecht übernommen. Man sollte sie streichen, damit klargestellt ist: Die Gerichte können den Leistungsbescheid in vollem Umfang nachprüfen, ob in ihm die bedarfsgerechte individuelle Unterstützung zur Teilhabe auch umgesetzt wurde.

 

7. Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen brauchen Rechtssicherheit. Ist der Leistungsbescheid transparent genug?

Prof. Dr. Schütte: Zum Leistungsbescheid gibt es keine detaillierten Regelungen, die sollte es aber geben. Insbesondere die Verständlichkeit ist schon heute ein großes Problem. Künftig werden Menschen mit Behinderungen, auch wenn sie weiter stationär betreut werden, einen Bescheid über Fachleistungen und einen über die Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten. Das wird für alle Beteiligten komplizierter. Da wird es für die ja gewollte umfassende Beteiligung vermehrt auf die Verständlichkeit der Bescheide ankommen.

 

8. Haben Flüchtlinge und Asylbewerber auch Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe?

Prof. Dr. Schütte: Nein, offenbar sollen sie gänzlich ausgeschlossen bleiben, jedenfalls solange sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen. Ich finde den Wertungswiderspruch bemerkenswert: Im Entwurf eines Integrationsgesetzes öffnet man die Tore in Richtung Bildung und Arbeit, aber bei Flüchtlingen mit Behinderungen verknappt man die Teilhabeleistungen. Das Asylbewerberleistungsgesetz lässt bei gesundheitlichen Hilfen zwar in äußersten Notfällen eine Hintertür offen, aber nur dort. Auch insoweit widerspricht der Entwurf zum BTHG der UN-BRK, die den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Unterstützungsleistungen zu einem allgemeinen Menschenrecht erklärt; Flüchtlinge und Asylbewerber dürfen nicht diskriminiert werden, Art. 1 und 9 UN-BRK.

Das ASB-Rechtsgutachten zum Bundesteilhabegesetz von Prof. Dr. Wolfgang Schütte können Sie hier herunterladen als Kurzfassung und als Komplettfassung.

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